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VOM ELEND DER SPRACHE IM EIGENEN LAND


Nuschelland


Aus der Mailbox piepst eine Mädchenstimme. Das Geräusch scheint aus einem Kin-derzimmer zu kommen, doch je länger ich zuhöre, um so mehr wächst der Verdacht, daß es sich um den Anruf aus einer Redaktion handelt, die Stimme keinem zu Scherzen aufgelegten Girlie, sondern einer Sekretärin zuzuordnen ist, die fetzenwei-se immerhin so etwas wie Ziffern verlauten läßt; es könnte sich um Termindaten oder auch Telefonnummern handeln, doch eine genauere Bestimmung ist unmöglich, und das Stakkato allegrissimo ohne Fermate oder Pause läßt mich befürchten, daß die Verursacherin noch während ihrer Ansage an Atemnot dahinschwinden wird. Wiederholtes Abhören, das meine Aggression gegen das infantile Schnattern der Anruferin steigert, läßt immerhin den Schluß zu, daß es sich um eine Filmfirma, möglicherweise in Hamburg handelt, und daß die Anruferin Sindy genannt zu werden wünscht. Zwei Wochen später erfahre ich aus einer Email, man sei um mich besorgt, weil ich auf jenen Anruf nicht reagierte. Meinen Einwand, daß die beauftragte Mitarbeiterin schlicht nicht zu verstehen gewesen sei, quittiert man mit der Bemerkung, Sindy sei einfach immer fabelhaft gut gelaunt.
Inzwischen weiß ich, daß diese Art, sich unverständlich zu benehmen, ein Zeichen von Kreativität und innerer Frische ist. Gelernt habe ich das im Theater, anläßlich ei-ner Othello-Inszenierung, in der ich vom Text, der mir hinlänglich bekannt ist, akus-tisch nur die Andeutung einer Oberflächenstruktur wiederfand, für deren Herstellung die Schauspieler sich bemühen mußten, möglichst zu vergessen, daß sie überhaupt Wörter sprachen. Ich dachte, nachdem man auf der Bühne nun weitgehend auf Bekleidung verzichtet, immer häufiger auch auf ein Bühnenbild, sei es wohl nur konsequent, endlich auch auf den Klang des Textes zu verzichten und die elitäre Artikulati-on des Kunstwerks durch eine hochdemokratische Baustellenkonversation zu erset-zen.
Trotz aller barbarischen Inszenierungskunst: Wenn man ein Stück, das man kennt, in der vierten Reihe Parkett lautlich nicht mehr versteht, macht man sich Sorgen. Da wir gelernt haben, die Schuld immer zuerst bei uns selbst zu suchen, führt die Sorge uns zum Ohrenarzt, und erst wenn dieser nach eingehenden Tests feststellt, unser Gehör sei vollkommen in Ordnung, wobei er listig das Wörtchen „altersgemäß“, langsam ausgesprochen, hinzufügt, fragen wir uns, was eigentlich mit der deutschen Sprache in deutschen Landen los ist.
Moppel-Ich und Runzel-Ich leben im Nuschelland. Ich bin mit dieser Ansicht, wie mir in etlichen Gesprächen bestätigt wurde, nicht allein, und die Klagen sind auch nicht auf meine Generation plus X beschränkt. Es geht nicht um das Geplapper der Kids, es geht um eine Lippen-, Zungen und Kiefer-Faulheit, die andere Ursachen als nur die allgemein bejammerte Bequemlichkeit der Leute, vor allem der jungen Leute, ha-ben muß.
In einem Schreibwerkstatt-Seminar an einer Universität sitze ich mit acht Studenten, sechs Damen, zwei Herren, um den Tisch und arbeite mit ihnen an ihren Entwürfen von Theaterstücken. Nach der ersten Gesprächsrunde frage ich mich: Wollen sie nicht verstanden werden, oder sind sie selbst nicht einverstanden mit dem, was sie gerade sagen? Würden sie also die Sätze, die sie sagen, gern im Augenblick des Aussprechens zurücknehmen und lieber ungehört sein lassen? Liegt es daran, daß die Verfertigung der Gedanken beim Reden sie so sehr in Anspruch nimmt, daß sie nicht gleichzeitig aussprechen können, was sie bereits gedacht haben? Sind sie ein-fach nur schlecht erzogen?
Es dauerte zwei Seminartage, bis wir uns akustisch aneinander gewöhnt hatten. Die Arbeit wurde dann richtig schön. Doch daß ich jungen Menschen, die immerhin im dritten Semester waren und Theaterautoren werden wollten, erst sagen mußte, daß, wer verstanden werden will, sich artikulieren können sollte, hat mich überrascht. Das Gehaspel, Gebrumme, Genöle, das durch die kaum geöffneten Lippen gequetscht und auf den Tisch fallengelassen wurde, war allenfalls mit den bekannten Regiean-merkungen „beiseite“ oder „für sich“ zu belegen.

Diese beiden Gestaltungs-Hinweise – im Theatertext immer dann eingefügt, wenn die Person etwas für das Publikum sagen will, was die Mitspieler angeblich nicht hö-ren, jedenfalls nicht hören sollen – sind denn auch die weiterführenden Begriffe, wenn man sich über das Elend der deutschen Sprache im eigenen Land kundig ma-chen will. Kurz und bündig läßt sich vermuten: Wir wollen einander nicht verstehen, wir haben es gründlich satt, einander zuzuhören, wir erwarten, zumindest von öffentlichen Reden, ohnehin keinen Inhalt mehr; und so bleiben das „für sich“-Sprechen beim Seelenarzt, sowie das „beiseite“-Sprechen untereinander irgendwann die letzten akustischen Räume der deutschen Zunge.
Sollten Sie mich so weit klanglich verstanden haben,  werden Sie mich für einen misanthropischen Schalk halten, der Sie für den Rest der Tagung zu deutlicher Aus-sprache verleiten will. Weit gefehlt: Ich höre das Nuscheln als Teil eines Zerset-zungsprozesses, der unsere Sprache befallen hat, und zwar als jenen Teil des Lo-gos-Desasters, den wir mit der eustachischen Röhre wahrnehmen. Andere Erschei-nungsweisen sind weniger auffällig. Alle aber stehen unter der Zielvorgabe, aus dem Verständigungsmittel Sprache ein Unverständlichkeitsinstrument zu machen.
Vielleicht begann alles mit den Schreibweisen. Es bedurfte großer bedeutungs-schwerer Kommissionen und eines abenteuerlichen öffentlichen Diskurses, um die letzten grammatikalischen und orthografischen Gewißheiten aus dem Deutschen zu entfernen und dieses verbissen vorangetriebene Zerstörungswerk als Reform der Richtigschreibung auszugeben. Das Projekt der Verunverständlichung und Verhäßlichung der deutschen Schriftsprache hat möglicherweise das Selbstbewußtsein einiger, zuvor noch nicht recht auffällig gewordener, Germanisten gestärkt; geschwächt hat es die Schreib- und Lesesicherheit, und gelegentlich sind es neue Schreib- und Silbentrennungsweisen in den Tageszeitungen, die mich mißtrauisch gegen den Inhalt werden lassen. Insofern fühle ich mich an meine jungen Jahre erinnert, als wir das Projekt der „Verunsicherung“ vorantreiben wollten, um die Gesellschaft zu befreien. Älter geworden, würde ich mich gern auf die Bedeutung der Sätze konzentrieren – wenn denn ihre grammatikalische Ordnung und ihre Schreibgestalt das zuließen.
Früher nahm ich an: was gedruckt oder gesendet wird, habe eine Redaktion passiert und sei für publikationsfähig erachtet worden. Das glaube ich nicht mehr. Ein Tag am Radio, und man hat eine ganze Anthologie mit Stilblüten, grammatikalischen Mißbil-dungen, falschen Konjunktiven, unsinnigen Superlativen und waghalsigen Ausspra-cheversuchen französischer, italienischer, gar lateinischer Namen und Zitate gefüllt. Steigender Beliebtheit erfreut sich die freie Verwirrung idomatischer Redwendungen. Eine Kulturredakteurin, die von der pädagogischen Bedeutung des Theaters für die Jugend zu überzeugen versuchte, wollte sagen, Kinder hätten schon beim ersten Mal im Marionettentheater Blut geleckt, sagte jedoch, sie hätten „Lunte gerochen“. Ein politischer Kommentator forderte, man solle „das Kind nicht in den Brunnen werfen“, als er meinte, man solle es nicht mit dem Bade ausschütten oder in den Brunnen fal-len lassen  – beides gräßliche Bilder, aber in der Kombination doppelt grausam – zumal er eigentlich wohl meinte, man solle die Flinte nicht ins Korn werfen. Derselbe sagte im selben Text, die Rentenreform sei das „angesagteste“ Thema der Koalition in Berlin, und ich fragte mich, wie ich etwas noch sagender als sagend sagen, gar am gesagtesten sagen soll; doch ohne Superlativ geht es offensichtlich nirgends mehr. Ungerührt behauptet die Verkehrsinformationswelle des Bayerischen Rund-funks in jeder Ansage, es handle sich bei ihr um den „aktuellsten“ Service. Wie das? Läßt „augenblicklich“ sich logisch steigern in „augenblicklicher“ und „am augenblick-lichsten“? Das „meistgelesenste“ Buch zu schreiben, ist mir bisher nicht gelungen, doch „gelesener“ als vor zwanzig Jahren bin ich schon, und zwar ohne daß man mir einen Unterhaltungsstil „aufoktroyiert“, also auf-aufgedrängt hätte...
Den korrekten Gebrauch des Konjunktivs einzufordern, ist längst vergebliche Lie-besmüh’; zwischen Möglichkeitssinn und indirekter Rede zu unterscheiden, zwischen Behauptung, Vermutung und Wunsch, ist aus der Mode. Gleichfalls in den Nachrich-ten, diesmal Fernsehen: „Ob die Bundeskanzlerin das Thema ansprechen wird, ist unwahrscheinlich.“ Nein: Daß  sie es anspricht, ist unwahrscheinlich. Ob sie es an-spricht, kann allenfalls fraglich oder ungewiß sein. Die Fehler, Verwechslungen, Ungenauigkeiten, Halbwahrheiten sind Sprachalltag der Medien; vor allem die Unsitte, in einem Satz, der zwei Subjekte hat, das Verb im Singular stehen zu lassen, gehört inzwischen fast zum Regelwerk in Nuschelland. So wie das rhetorische Betrugsmanöver in Politik und Wirtschaft mit der Formel „Ich gehe davon aus“.
Wo gehen sie nur alle hin, die da täglich ausgehen, und zwar von etwas, das wie ei-ne Sicherheit klingen soll, sich aber im Zweifelsfall nicht beim Wort nehmen ließe? Das ist täglich mehrhundertfach begangener Betrug, denn die Formel „Ich gehe da-von aus“ verleiht dem Ausgänger den Anschein von Gewißheit, während sie eigent-lich nichts anderes meint, als daß ihr Verwender nichts in der Hand hat als Vermu-tungen. Doch dies mit dem Satz „Ich nehme an“ zuzugeben, könnte als Schwäche oder Inkompetenz ausgelegt werden. Würde er hingegen sagen „Ich setze voraus“, könnte man ihn, wenn die Voraussetzung nicht eintritt, bei einem Irrtum ertappen. Folglich die nach allen Richtungen hin offene Betrugslösung: „Ich gehe davon aus“. Wer sie verwendet, scheut sich auch, eine Meinung zu äußern. Er sagt „Ich denke, daß...“, übersetzt dabei das englische „I think“ so wörtlich wie falsch, drückt sich um die korrekte Auskunft „Ich meine, daß...“ und schmückt sich mit einer Tätigkeit, die man ihm kaum mehr zutrauen möchte: Er denkt.
Ich will die Anthologie des Jammers nicht schließen, ohne darauf hinzuweisen, daß meine Eindrücke sich nicht allein aus zufälligen Lese- und Hörerlebnissen speisen, sondern daß ich pro Jahr im Durchschnitt zwischen achtzig und hundert Manuskripte zu lesen bekomme, die aus Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens stammen. Und dies seit über drei Jahrzehnten. In summa: der Verfall von Stil, Grammatik, Rechtschreibung ist offensichtlich. Niemand begibt sich gern in die Position des Nöckergreises, dem früher alles besser gewesen zu sein scheint. Was aber, wenn er recht hat?
Nuschelland ist nicht nur eine Gegend, in der man einander akustisch nicht verste-hen will. Hier wird auch geistig und stilistisch genuschelt. Wir wissen, daß Klang, Gestalt und Inhalt in Wechselbeziehung zueinander stehen; wo die Ästhetik der Sprache niedergeht, können ihre inhaltlichen Möglichkeiten und Differenzierungen sich nicht auf der Höhe halten. Wo aber sie verlorengehen, das ahnte schon Lao Tse, weiß die Gesellschaft nicht mehr, „wo Hand und Fuß hinsetzen“.

Für mich ist Sprache vorrangig gesprochene Sprache, die Schrift nur hilfsweise ein Zeichenregister zu ihrer Übermittlung, ein Code, offen für alle, die ihn zu entziffern gelernt haben. Daß die Schrift eine eigene ästhetisch geordnete Welt darstellt, ist e-vident, und daß Schriftkunst und literarisches Kunstwerk einschließlich der Buchge-stalt wechselseitig zur Erhöhung des Genusses beitragen können, hinreichend be-wiesen. Dennoch ist das Wesen der Sprache in ihrer Grundbedingung zwischen Menschen, nämlich dem Erzählen, etwas Flüchtiges, Unfixiertes, bei dem es um so mehr auf den Ausdruck und seine Klanggestalt ankommt, als ja die einzige Dauer, die ihm vergönnt ist, im Gedächtnis des Hörenden wohnt. Man sollte meinen, eine so lapidare Feststellung, die sich von selbst versteht, habe gleichermaßen selbstver-ständliche Folgen für unseren Gebrauch der Sprache. Sie bestimmte auch lange das Ziel von Schulbildung, solange in ihr das eigenständige Formulieren und die Be-schäftigung mit Literatur, das Erlernen von Gedichten für ihren freien Vortrag, das Agieren im Schultheater einen pädagogischen Wert darstellten. Inzwischen scheint das Fach Deutsch nur noch ein Randfach zu sein, dessen Bedeutung bezüglich der Nützlichkeit des jungen Menschen für die Prosperität des Gemeinwesens zumindest fraglich ist, wenn nicht gar geleugnet wird. Viele Abiturienten haben in Deutschleistungskursen zwar gelernt, was ein Hendiadyoin ist, worin sich ein Pleonasmus von einer Tautologie unterscheidet, sie können ein Oxymoron erkennen, doch von der deutschen Literatur und den Möglichkeiten des Ausdrucks wissen sie so gut wie nichts. Mit ihnen über Dichtung zu diskutieren, ist für alle Beteiligten eine Qual, ihr Sprach- und Sprechvermögen steht in krassem Mißverhältnis zu ihren theoretischen Kenntnissen. Sie wachsen in eine Gesellschaft hinein, die sich erzählen läßt, und die sich darum mehr und mehr in unterschiedlich sprachmächtige Kasten aufteilt. Selbstverständlich gab es auch früher keine sprachversierte Allgemeinheit. Seinerzeit spielten aber die Dialekte eine größere Rolle – und der Dialekt ist ja keine Erniedrigung der allgemeinen Hochsprache, sondern im Gegenteil ein Idiom zu ihrer Präzisierung. Heute ist die Verfügung über die Wörter der Arbeitsteilung verfallen, und wir sind in der Gefahr, als Allgemeingut zu verlieren, was uns am leichtesten gemeinsam jederzeit und überall verfügbar sein könnte: die Muttersprache.
Die Mediengesellschaft überläßt die Erzählkompentenz denen, die mehr oder minder professionell mit Texten umgehen. Daß sie dies immer weniger kompetent tun, liegt eben daran, daß die allgemeine Basiskompetenz schwindet, auf deren Grundlage Professionalisierung erst möglich wird. Sprachbildung und Sprechbildung gehören nicht mehr – weder in der Schule, noch zuhause – zum Grundkonsens der Bildung, und ihre durchaus empfindliche Verwebung von Inhalt und Form, von geistiger mit ästhetischer Übung, ist kaum mehr bewußt. Man möchte am liebsten Schillers klügs-tes und in seiner aktuellen Bedeutung verkanntes gesellschaftsphilosophisches Werk – die 27 Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ – auf öffentlichen Plätzen vorlesen, um zu erklären, in welcher Weise die ästhetische Bildung des Menschen sein gesellschaftliches Sein befördern, ihre Abwesenheit aber seinen Zu-stand vergröbern und beschädigen kann, sodaß letztlich die Unfreiheit seines Aus-drucks die Unfreiheit seiner Existenz bestimmt.

Nuschelland ist ein geistig bequemes, ja faules Land. Es kennt kaum breit wirkende Diskurse außer denen ums Geld. Ökonomisch wird es sich langfristig nicht auf guter Hardware ausruhen können. Unternehmer klagen, daß junge Menschen, die nach dem Abitur in ihre Betriebe eintreten, nicht in der Lage sind, einigermaßen fehlerfrei Briefe zu schreiben, oder sich am Telefon Kunden gegenüber sprachlich zutreffend zu äußern. Wieder mag man einwenden, dies sei früher nicht anders gewesen. Ge-genfrage: Wo denn aber blieb der Fortschritt seit früher, der allenthalben reklamiert wird? Nein, die Sprach- und Sprechkompetenz hat, daran habe ich leider keinen Zweifel, in erschreckender Weise abgenommen, und zwar sowohl bei denen, die den Medien das Sagen überlassen, als auch bei denen, die in den Medien das Sagen für sich beanspruchen. Bildung der Sprache kann eben nur mittels Bildung durch Sprache gelingen. Und letztlich hängt der Zustand der Demokratie, der innere zunächst, davon ab, wer in ihr sprachmächtig ist, und ob eine Mehrheit sich in der Lage sieht, sprachkritisch zuzuhören und Einwände treffend zu formulieren. Das ist, man mag es drehen wie man will, eine Frage der Bildung. Nicht eine Frage der angehäuften Kenntnisse: Bildung ist die Verwandlung von Wissen in Bewußtsein.
Ich höre das Echo der Gegenrede: Daß einer Rilkegedichte oder Verse der Ilias auswendig aufsagen konnte, hat ihn nicht daran gehindert, der SS beizutreten. Das ist wahr, und es liegt nicht an Rilke, und nicht an Homer.
Meine Generation hat trefflich dazu beigetragen, humanistische Bildung zu verach-ten, schließlich sei sie unfähig gewesen, den Nationalsozialismus zu verhindern.
Unfähig aber war nicht die Bildung, sondern ignorant waren diejenigen, die ihre Bil-dung für Karrieren in einer sittlich und moralisch verkommenen Gesellschaft preisge-geben haben. Versagt haben jene, die ihre Bildung verrieten, um der Barbarei unge-stört gefällig sein zu können. Es ist sehr einfach, den Humanismus, die Geisteswis-senschaften, die Literatur in toto verantwortlich zu machen; dadurch mogelt man sich um die individuelle Schuld herum – und so sehr wir 68er meinten, unsere Väter an-zuklagen, so sehr haben wir sie zugleich durch Ideologisierung und Verdammung der bürgerlichen Bildungsideale vor ihrer persönlicher Entscheidungsverantwortung ge-schützt. Vollständig ignoriert haben wir, daß ein bedeutender Teil des von uns ver-teufelten und für den Nazistaat mitverantwortlich gemachten Bildungsbürgertums jü-disch war.
Selbstverständlich sind Sprachkompetenz und geisteswissenschaftliche Grundver-sorgung kein sicherer Schutz gegen Verrohung. Hat einer Kultur, kann er dennoch Barbar sein. Denn das Gegenteil der Barbarei ist nicht die Kultur, sondern die Zivili-sation. Diese Frage steht gegenwärtig in unserem Land nicht zur Debatte. Die deut-sche Zivilisation scheint mir nicht gefährdet. Die deutsche Sprachkultur schon. Und verfällt sie, dann werden wir uns fragen müssen, ob wir noch in der Lage sein wer-den, hellhörig zu sein. Hellhörigkeit wäre ein gewisser Schutz gegen den Fall der Zivilisation zur Barbarei. Bedenklich also ist nicht der Zustand unserer gegenwärtigen Gesellschaft – jedenfalls nicht, was ihre Austragung der Grundwidersprüche betrifft, an der, meine ich, vielseits offen und bemüht gearbeitet wird – bedenklich ist, daß wir den Zusammenhang von Sprachkultur und Zivilisiertheit so unbedacht aus den Au-gen verloren haben. Wir jammern zwar gelegentlich über die Fülle der Anglizismen, die Amerikanisierung des Vokabulars, und tun das mit einer geradezu rassistischen und philologisch unhaltbaren Reinheitsvorstellung von Sprache; aber um ihre Eigen-heit und Vielfalt kümmern wir uns wenig. Selbstverständlich ist nicht einzusehen, daß ein Auskunfts-Schalter Service Point heißen muß, nur, weil Bahnchef Mehdorn auf diese Weise seinen inneren Provinzialismus camoufliert; und daß jede Dorfveranstal-tung Event-Charakter erhält, wenn man die Logistik richtig handelt, will mir auch nicht einleuchten. Doch ist mit dem – ohnehin vergeblichen – Versuch, das vermaledeite Denglisch per ordre de mufti zu untersagen, schon die hochrühmliche Académie Française gescheitert, und die französische Télecopie heißt auch dort mittlerweise Fax, der Ordinateur wird als Computer gekauft. Die Vorstellung von der Sprache als einem weiblichen Lebewesen, dem von Fremden Gewalt angetan wird, ist philologi-scher Kitsch.
Sprache ist, wie Platon sagt, nicht physis, also nicht Natur, sondern nomos, also Vereinbarung. Und ihre Veränderung beruht folglich nicht auf Prozessen irgendeiner ihr innewohnenden Flora oder Fauna, sondern auf der Lebensänderung der Men-schen, die sie sprechen. Jacob Grimm hat dies in die Sentenz gefaßt: "Alles verbürgt uns, daß die Sprachen Werk und Tat der Menschen sind." Dies aber hieße: unsere Sprache als Werk und Tat auch in dem Sinne zu begreifen, daß wir mit ihr, durch sie, die ästhetische Erziehung des Menschen – in Schillers Sinne also seine gesellschaftlich wünschenswerte und ihn selbst veredelnde Sensibilisierung – anstoßen, betreiben, entwickeln können...und sollten. Daß dies in Jahren weitgehend ungefährdeter Zivilisiertheit des Menschen geschehen muß, scheint mir einsichtig – nach der bewährten Devise „Bevor es zu spät ist“. Die Frage, die, wie ich glaube, brennende Frage ist: Was geschieht, wenn diese Chance nicht genutzt, ja, wenn sie nicht einmal erkannt wird?

Nuschelland verpaßt seine Chance. Nuschelland ist in einer Spielphase, aber nicht weil der homo ludens in ihm vorherrschte, sondern weil es in eine infantile Zufrieden-heit einerseits und eine zynische Selbstzufriedenheit andererseits zu zerfallen droht. Die letzteren spielen mit Geld, die anderen mit ihrem Leben. Man kann dies an ihren Sprechweisen erkennen. Die einen sprechen das Wort „Millionen“ „beiseite“ aus; die anderen in der Hoffnung auf den Jackpot „für sich“; beide wollen ihre Ruhe – die wohlverdiente, die mit Ordnung verschwisterte; doch wenn es damit nicht klappen sollte, werden die einen sich in ihren luxemburgischen Schließfächern einrichten, die anderen erschlagen werden. Der Frieden, zunächst der soziale, ist eine Spinnwebe.
Können wir darüber noch sprechen, ohne uns darauf zu beziehen, was dieser oder jener Minister oder Manager in dieser oder jener Talkshow diesbezüglich geäußert hat? Haben wir dazu noch eine eigene Meinung und die Wortwerkzeuge, sie zu arti-kulieren. Sind wir noch bereit, laut und klar auszusprechen, was wir für richtig halten, befürchten, hoffen? Können wir, um gehört zu werden, noch den Mund aufmachen, oder bevorzugen wir nicht längst das genuschelte „beiseite“ und „für sich“?
In Nuschelland ziehen Mut und Unmut sich auf den Stammtisch zurück. Nicht daß generell, auf Bahnsteigen, in Fahrstühlen, vor Postschaltern nicht gemurrt und ge-schnauft würde. Aber die Sprache ist kein Geräusch. Sprache ist unsere unmittelbare Fähigkeit, uns selbst, unserer geistigen und seelischen Gestalt Ausdruck zu verlei-hen, unseren Anspruch zu vertreten, unseren Platz zu behaupten, uns abzugrenzen und uns zu verbünden, unsere Träume zu erzählen und unsere Chancen einzufordern, uns emotional und intellektuell mitzuteilen.
Daß dies jeder vortrefflich können sollte, wird niemand guten Willens bestreiten. Dennoch gibt es einen ungesagten Rest. Für ihn existiert eine ganze, stellvertretende und ihn übertreffende Welt: Die Literatur.
Daß die Belletristik für viele Leser mehr ist als Zeitvertreib, steht außer Frage. Ich will hier nicht die leidige Diskussion darüber, ob der Roman eine gesellschaftliche Wir-kung habe oder nicht, aufwärmen. Tatsache ist aber, daß sein Erfolg häufig nicht ab-hängig ist von seiner literarischen Qualität, sondern davon, ob es ihm gelingt, in Lesern die Hoffnung auf eine Erweiterung ihrer Lebensperspektive, wenn nicht gar auf Lebenshilfe zu wecken. Wie anders wäre der Welterfolg des esoterischen Fundamentalisten Paulo Coelho zu erklären, der literarisch unbedeutend, als Erzähler unterdurchschnittlich ist – dem es jedoch gelingt, Millionen Lesern, mehrheitlich Leserinnen, vorzuspiegeln, sie erführen aus seinen Büchern eine spirituelle Nahrung, nach der sie sich sehnen. Daß sein Brei aus östlichen Weisheiten, Marienkult, Templertum, Jesuitenregeln und Psycho-Coaching die Leser nicht sättigt, ist Methode: Man hofft auf den nächsten Eintopf.
Coelho ist ein gutes Beispiel für Blendertum und Seelenbetrug in der Literatur – noch besser läßt sich an ihm die Erwartung der Leserschaft erkennen: Viele erwarten von der erzählten Welt nicht allein, daß man in sie eintauchen, in ihr ein Doppelleben der Phantasie, eine imaginierte alternative Existenz führen kann. Sie soll bisweilen auch Anwendungsnutzen für das reale Leben haben, und sei es nur der Trost, daß es einem selbst bei weitem nicht so schlecht geht wie Goethes Werther.
Natürlich gibt es reine Zeitvertreibliteratur – ich vermute jedoch, daß auch sie auf die Lebenssicht des Lesers einwirkt, und daß vor allem die Sprache, in der sie geschrie-ben ist, Einfluß auf das Sprechvermögen des Lesers nimmt. Darum ist ja nachlässig geschriebene Literatur so ärgerlich – weil sie signalisiert: So schlecht, wie du sprichst, kann man auch schreiben, besser zu formulieren, lohnt nicht, Stil ist unwich-tig, man braucht keine verschachtelten Sätze, um die Welt zu beschreiben, denn sie ist so schlicht und so kitschig wie das Buch hier. Halte dich ans Klischee, dann kommst du glatt durchs Leben...
Präzise, reichhaltig und poetisch formulierte Literatur hingegen verändert die Sprach-fähigkeit des Lesenden, unterstützt mit der Zeit seine Sicherheit in der Wortwahl und gibt ihm eine Vorstellung davon, wie weit und tief gestaffelt die Räume sind, in denen die Wörter wohnen. Lesend lernen wir sprechen. Sprechend lernen wir denken. Le-send denken wir. Denkend sprechen wir. Wird dieser Kreislauf nicht begonnen und geschlossen, oder wird er zerbrochen, gelingt unser Leben nicht so, wie es gelingen und mit dem Wort Glück in Verbindung gebracht werden könnte.

Unübersehbar ist freilich, daß die Literaturproduktion, und hier haben wir es tatsäch-lich mit Amerikanisierung zu tun, mehr und mehr von der Formel Hohe Span-nung+Niederer Stil beherrscht wird. Bücher sollen nach dem Willen vor allem großer Verlage leicht konsumierbar sein, das heißt, sie dürfen dem schnellen Lesen keinen stilistischen Widerstand entgegensetzen. Viele Nuschelbücher kommen dabei her-aus, doch immer noch gelingt es ernst zu nehmenden Werken der Literatur, einige Positionen der Bestsellerlisten zu besetzen. Dies deutet darauf hin, daß es eine aus-reichende, nachwachsende Leserkaste im Land gibt, die sprachlich überrascht und fasziniert, gedanklich gefordert und gebildet werden will. Möglicherweise sind das Leute, die sich auch im Alltag nicht mit dem „Beiseite“- und „Für sich“-Sprechen begnügen, sondern aus der „ästhetischen Stimmung ihres Gemüts der Freiheit Entstehung geben“, wie Schiller im 26. Brief seiner Ästhetischen Erziehung schreibt. Freiheit ist hier durchaus im Sinne der Emanzipation des Menschen, Befreiung also aus seiner Unmündigkeit, gemeint. Daß hierfür nicht Aufklärung, oder nicht allein sie, sondern der ästhetische „Schein“, so wie Schiller ihn versteht, unabdingbare Voraus-setzung ist, gehört zu den heutzutage kaum begriffenen, jedenfalls nicht geschätzten Erkenntnissen, wenn wir über die Bedeutung von Kunst und Literatur sprechen.
Nuschelland ist ein unmündiges Land. Eines, in dem die Denkwerkzeuge einseitig in Bezug auf output für die Mehrwerterzeugung trainiert werden; eines, in dem die Sprechwerkzeuge so gut wie gar nicht trainiert werden; eines, das genau an dem krankt, was scheinbar sein Vorteil ist: die materielle Prosperität und die Beschleuni-gung seines Warenumsatzes. Die Beschleunigung hat längst auf die Kultur überge-griffen, in zweierlei Weise: Künstler und Schriftsteller fallen dem rasenden Vergessen dieser Gesellschaft anheim, und die Produktionszeit für ein Kunstwerk steht in kei-nem Verhältnis mehr zu seiner Verweildauer. Konkret: Ein Roman, an dem man zwei Jahre geschrieben hat, muß in sechs Monaten verkauft sein, nur dann hat er eine Chance auf Neuauflage und weitere sechs Monate. Es sind diese Markterwartungen und Verwertungs-Rhythmen, die jeglicher ästhetischen Bemühung zuwiderlaufen. Die Folgen sind überall sichtbar: Neuaufgüsse, Zweitverwertungen, Schnellschüsse, Oberflächlichkeit, Wettlauf ums niedrigste Niveau, Entwertung des Originals, Überbewertung der Sekundärkultur, das Echo wird wichtiger als der Ruf und auch besser bezahlt. Man vergleiche die Honorare der Komponisten mit denen der Dirigenten: den einen das Licht, den anderen der Scheffel.
Nuschelland nimmt sich keine Zeit. Auch nicht zum Sprechen. Es verhaspelt sich, jagt den Quoten nach, hält die eigene Sprache für etwas, das noch immer zu um-ständlich ist, zu zeitaufwendig, und eigentlich auf ein nützliches Derivat zurückge-stutzt werden könnte.
Doch die Zeit arbeitet gegen Nuschelland. Ausstellungen mit originalen Artefakten werden geradezu gestürmt. Langsam gewinnt, erst in der Malerei, das Original Ter-rain zurück. Junge Autoren veröffentlichen elaborierte Texte, arbeiten an eigenem Stil, scheuen keine Umständlichkeit; Junglyriker treten mit geradezu equilibristischer Sprechfähigkeit in öffentlichen Sessions auf, wo sich das Publikum einfindet, das in der Schule mit Gedichten nicht konfrontiert wird. Reim und Versmaß feiern fröhliche Urständ’, und langsam wird auch die veröffentlichte Sprache in den Medien sich wieder darauf besinnen, daß die Welt nicht ganz und gar in infantilen Dreiwortsätzen auszudrücken ist. Zumal die Kriege sich zwar gleichbleiben, ihre öffentliche Begründung jedoch immer komplizierter wird. Irgendwann werden auch die Politiker wieder lernen, interessant, inhaltsbezogen und verständlich zu sprechen; irgendwann werden die Pfarrer und Pastoren ihren falschen Tonfall ablegen; irgendwann wird Nuschelland mit seinen schief gebauten Sätzen und idiomatischen Verwechslungen, seinem nichtssagenden Geplapper und seinen Superlativen eine Erinnerung sein – keine schöne.
Selbstverständlich habe ich bei seiner Darstellung übertrieben. Hoffentlich. Hoffentlicher. Am Hoffentlichsten...


 
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